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Fins de Siècle: Der Schlaf der Vernunft & Treibjagd (Comic)

Fins de Siècle: Der Schlaf der Vernunft & Treibjagd
(Fins de Siècle)
Autor: Pierre Christin
Artwork: Enki Bilal
Übersetzung: Resel Riebersch
Lettering: funky kraut productions
Ehapa, 2008, Hardcover, 200 Seiten, 45,00 EUR, ISBN 978-3-7704-3244-8

Von Frank Drehmel

Das Œuvre des in Belgrad geborenen und seit 1961 in Frankreich lebenden Künstlers Enki Bilal umfasst nicht nur phantastische Comics wie „Exterminator 17“ - das in Deutschland wohl bekannteste Werk Bilals - sondern auch politisch-historische Geschichten, Statements, Analysen, die sich explizit an eine erwachsene Leserschaft richten und deren phantastische Elemente, so sie denn überhaupt vorkommen, sich wie in „Treibjagd“ in Träumen und Visionen erschöpfen.
Der vorliegende Hardcover-Band enthält drei dieser politischen Werke, denen Geschichten des graduierten Politikwissenschaftlers und französischen Comic-Autors Pierre Christin zu Grunde liegen, eines Autors, mit dem Bilal seit langem zusammenarbeitet und der in Deutschland vor allem durch seine Arbeit an der Science-Fiction-Reihe „Valerian & Veronique“ bekannt sein dürfte.
Während „Nachruf (1990)“ eine von Bilal lediglich illustrierte essayistische Reflektion Christins über die eigene prophetische Kraft und das Scheitern des Sozialismus darstellt, sind „Der Schlaf der Vernunft“ und „Treibjagd“ klassische Comics und sollen daher auch im Mittelpunkt dieser Rezension stehen.


Der Schlaf der Vernunft (Les Phalanges de l'Ordre Noir, 1979)

Die 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts: Während Europa unter den Anschlägen linksextremistischer und separatistischer Organisationen erbebt, löscht eine Gruppe rechtsextremer Terroristen unter dem Namen „Falange“ ein kleines spanisches Dorf aus.
Diese internationale Gruppe rekrutiert sich aus Männern, die schon auf Seiten des Franko-Regimes gegen die spanische Republik zu Felde zogen und denen sich damals die „XV. Internationale Brigade“ im Kampf um eben jenes spanische Dorf geschlagen geben musste.
Als einem der Überlebenden der Internationalen Brigade zufällig ein Pressebericht über den Terroranschlag in die Hände fällt, beschließt er, die alten Mitstreiter, die sich im Laufe der Jahrzehnte zwar mit dem bürgerlichen Leben arrangiert haben, die aber als Salon-Sozialisten die linken Ideale weiter hochhalten, zusammenzutrommeln, um der „Schwarzen Falange“ Einhalt zu gebieten.
Doch die Zeit hat ihren Tribut gefordert und, obgleich die Ideen der Veteranen noch frisch sind, sind ihre Körper alt und schwach geworden. Dennoch gelingt es ihnen unter Aufbietung aller Kräfte und mit viel Improvisationstalent, der blutigen Spur, die der alte Feind durch Europa zieht, zu folgen, um ihn in einem alten französischen Landhaus in einem letzten grausamen Gefecht zu stellen.


Treibjagd (Partie de chasse, 1983)

Die 80er-Jahr des letzten Jahrhunderts: der Ostblock ist im ideologischen Umbruch begriffen; auf einem prachtvollen Anwesen inmitten der russischen Weiten treffen sich einige alte Männer, ihres Zeichens allesamt hochdekorierte Mitglieder der Politbüros befreundeter Ostblockstaaten, um ein Treibjagd zu veranstalten. Deplatziert in dieser Riege alter Funktionäre scheint ein junger französischer Kommunist, den man als Dolmetscher eingeladen hat. Nicht ahnend, dass die Greise ihm eine besondere Rolle in ihrem intriganten Spiel um verlorenene Ideale und gefährdeter Macht zugedacht haben, lauscht der junge Mann ihren Erzählungen, die von einem Kampf kommunistischer Idealisten gegen Bourgeoisie und Reaktion künden.


Auch wenn die in den beiden Comics diskutierten politischen Probleme momentan nicht akut zu sein scheinen, sich überlebt oder an Brisanz eingebüßt haben und somit für viele jüngere Leser nur schwer zugänglich sein dürften, so schmälert dieses den Wert von Pierre Christins Storys nicht im Geringsten, denn abgesehen von der Aufbereitung bzw. Interpretation historischer „Fakten“ linksintellektueller Geschichtsschreibung sind die zentralen Fragestellungen universeller Natur:
Heiligt der Zweck die Mittel? Was geschieht mit einem Menschen, der seine Ideale verliert oder verrät, der womöglich falschen Idealen hinterherläuft? Wer oder was schreibt die Geschichte; der Einzelne oder die Massen? Um nur einige Fragen zu nennen.
Insgesamt stellen beiden Storys eine Abrechnung mit einem unmenschlich gewordenen Sozialismus dar, wobei es Christin durchaus versteht, die schleichende moralische und ethische Erosion des Einzelnen wie auch des Systems ohne explizite Polemik oder Agitation glaubhaft nachvollziehbar zu schildern.

Erzählerisch sind die komplexen Geschichten trotz ähnlicher Grundthemen sehr unterschiedlich konzipiert. Zunächst nehmen in beiden Storys Dialoge großen – zentralen - Raum ein. Während jedoch „Der Schlaf der Vernunft“ eine actionbetonte, temporeiche und spannende Jagd durch ganz Europa darstellt, ähnelt „Treibjagd“ in seiner räumlichen Beschränkung eher einem Kammerspiel, bei dem es weniger um das Handeln, als vielmehr um das Referieren von Geschichte geht.

Während die Storys „nur“ interessant sind, ist Bilals Artwork herausragend. In seinen detailreichen, atmosphärisch extrem dichten Zeichnungen spiegelt sich die ganze Schwere und Gravität von Christins Erzählungen wider. Insbesondere die Figuren mit ihren gleichermaßen harten wie desillusionierten, freudlosen Gesichtern, denen jeder Anflug eines Lächelns fehlt, ziehen den Leser von Anfang an in ihren Bann.
Wie schon in der Erzählweise ist auch im Artwork ein deutlicher Unterschied zwischen erstem und zweitem Comic erkennbar, der in erster Linie auf unterschiedliche Kolorierungsstechniken Bilals zurückzuführen ist und der „Treibjagd“ im Vergleich zum farblich wie grafisch sehr klaren „Schlaf der Vernunft“ visuell weicher und realismusnäher erscheinen lässt.

In Bezug auf die Aufmachung lässt „Fins de Siècle“ nur wenig Wünsche offen: redaktionell ergänzt werde die drei Werke durch ein neunseitiges, informatives Interview, welches Benoît Peters mit Pierre Christin und Enki Bilal führte; Papierqualität sowie Druck sind exzellent; lediglich die Leimung und der Buchrücken sind etwas schwach, sodass der schwere Band dazu neigt, sich zu verziehen.

Fazit: Grandios visualisiert, jedoch inhaltlich zu politisch, zu anspruchsvoll, schwer und schwermütig, um den Geschmack eines breiten Publikums zu treffen ... leider!
Ein Meisterwerk von solch didaktischem Wert, dass es im Schulunterricht Platz finden sollte.

hinzugefügt: May 12th 2009
Tester: Frank Drehmel
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