INTERVIEW MIT GUNHILD EGGENWIRTH!
Datum: Saturday, 18.December. @ 17:19:31 CET
Thema: Interview



Die Autorin Gunild Eggenwirth ist 32 Jahre alt. Hauptberuflich arbeitet Sie als Lehrerin an einer Hauptschule in Dortmund. Sie unterrichtet in den Fächern Deutsch, Erdkunde und Biologie. Während ihres Studiums schrieb sie bereits erste Geschichten und experimentierte mit Texten. Über das Fach Erdkunde entdeckte sie ihre Liebe für Nordamerika. Die Liebe zu Land und Leuten hatte auch Einfluss auf den Schauplatz ihres ersten Romans: „Sam und der Silberstaub des Glücks“, erschienen bei List.
Erik Schreiber sprach für p.de mit der Autorin.

Eine neue deutsche Autorin mit einem neuen Fantasy-Buch. Wie kam es zur Idee und schließlich zum Buch: SAM UND DER SILBERSTAUB DES GLÜCKS? Und wie zur Idee einer gleichmäßigen Verteilung von Glück und Unglück?

Die Grundidee stand bereits sehr früh fest. Ich habe eine große Vorliebe für Marienkäfer, und um diese entwickelte sich schließlich die gesamte Geschichte. Marienkäfer kennt man traditionell als „Glücksbringer“. Für uns ist Glück ein selbstverständlicher und allgegenwärtiger Begriff. Man hat Glück, wünscht jemandem Glück oder trägt einen Glücksbringer. Diese Redewendungen werfen einige spannende Fragen auf: Was ist denn das Glück überhaupt? Wie sieht es aus? Wer bringt es und wie macht er das? Wie könnte das sein und was wäre wenn...?
Um diese Fragen herum entwickelte sich die Geschichte fast von selbst: Wo es Glück gibt, muss es natürlich auch Unglück geben... Und was wäre, wenn dieses Gleichgewicht aus Glück und Unglück einmal aus den Fugen gerät...?
Hier verbirgt sich ein enormes Konfliktpotential, denn mit dem Glück und Unglück stehen sich zwei Pole gegenüber, denen „Gut“ und „Böse“ zugeordnet werden kann.
Zu dieser Grundidee kam erst später das „Personal“ hinzu: Helden, Helfer und Halunken. Bei der Suche nach den Unglücksboten drängten sich die Raben („Unglücksraben“) als Antagonisten für die Marienkäfer auf.
Um die beiden Begriffe Glück und Unglück rankt sich ein breites Feld des Aberglaubens und bietet einen guten Hintergrund für einige humorvolle Aspekte sowie eine skurrile Nebenfigur. Die entsprechenden Passagen haben mir beim Schreiben besonders viel Spaß gemacht.

Von der Fantasie zum Schreiben, war der Schritt schwer?

Nein, überhaupt nicht, denn ich stand unter keinem Druck. Die Geschichte habe ich zunächst nur für mich selbst und zum Spaß aufgeschrieben, immer dann, wenn ich Lust und Zeit hatte. Jede einzelne Phase dieser Arbeit, sei es der erste grobe Handlungsentwurf, die Ausgestaltung der Figuren, Recherchen oder die Ideensammlung hat mir sehr viel Spaß gemacht. Wenn ich vor inhaltlichen Problemen stand oder mit einer bereits geschriebenen Passage nicht zufrieden war, konnte ich alles in Ruhe überdenken und Zeit in Änderungen investieren. Dass ich selbst schon immer viel und gern gelesen habe, hat mir sicherlich geholfen, das Ganze in eine Form zu bringen, die sich bestimmten Erwartungen im Hinblick auf eine Veröffentlichung annähert. Etwas professionelle Hilfe habe ich mir dann noch bei James N. Frey geholt, der einige hervorragende Bücher zum Thema „ Kreatives Schreiben“ veröffentlicht hat. Der schwerste Schritt war für mich der endgültige Abschluss des Manuskripts, an dem ich seit Mitte der 90er Jahre gearbeitet hatte. Es gibt kaum einen Satz, den ich nicht noch einmal überprüft oder umgeschrieben habe, und bei jeder weiteren Durchsicht des Manuskripts habe ich Textstellen gefunden, die ich änderte. Wenn ich heute durch das fertige Buch blättere, werde ich stets ein wenig nervös. Vielleicht finde ich ja noch eine Stelle, die ich gern umschreiben würde...

Aus dieser Antwort lese ich jedoch einen gewissen Stolz. Sind Sie sehr zufrieden mit dem Buch, dem Aussehen, der ‚Schmöker-Qualität’? Hatten Sie Einfluss auf das Titelbild? Durften Sie mitentscheiden?

Der Begriff ‚Stolz’ gefällt mir nicht, und ich würde ihn in diesem Zusammenhang lieber durch ‚Freude’ ersetzen. Und zwar die Freude darüber, dass die Geschichte ihren Weg aus meiner Schublade heraus zu den Lesern gefunden hat. Darunter viele Leser, die ich noch nicht einmal persönlich kenne, in deren Fantasie ‚mein’ Sam aber nun zum Leben erwacht. Darüber freue ich mich.
Da beim Buch (im Gegensatz zum Film) der optische Teil fehlt, ist die Vorstellungskraft eines jeden Lesers individuell gefordert und so formt jeder Rezipient die Geschichte in seiner eigenen Fantasie mit. Ob Sam in der Vorstellung der Leser genau so aussieht, wie ich ihn vor Augen hatte? Wahrscheinlich nicht. Wie sich die vielen verschiedenen Leser wohl Tante Amandas Haus vorstellen? Oder Mr. Flannery’s Leuchtturm...? Nun, der ist auf dem Cover abgebildet und lenkt und beeinflusst damit die eigene Vorstellungskraft der Leser.
Trotzdem gefällt mir das Cover gut und ich bin zufrieden damit. Natürlich habe ich vorab mit meiner Lektorin über die Gestaltung des Umschlags gesprochen. Der Leuchtturm als ein zentraler Schauplatz der Geschichte kam sehr schnell ins Gespräch. Auch über die Farbwahl haben wir gesprochen, weil durch sie eine bestimmte Stimmung geprägt wird. Ich hätte gern einen Marienkäfer auf dem Umschlag gehabt, aber das hätte von den Proportionen nicht zum übrigen Bild gepasst und das Cover überfrachtet, wie ich schnell einsehen musste. Trotzdem fand ich es zunächst schade, bis ich schließlich das fertige Buch in Händen hielt und auf eine Überraschung stieß, von der ich zuvor nichts wusste: Zahlreiche Marienkäfer sind nun im Buch vertreten und tummeln sich auf den Seiten. Eine wunderschöne Idee, die mich begeistert hat.
Im Gespräch mit meiner Lektorin wurden recht genau die einzelnen Bildelemente festgelegt: der Leuchtturm, umkreist von Raben; Sam sollte mit drauf (ohne seine Gesichtszüge überdeutlich vorzugeben, denn der Leser soll ihn sich ja selbst vorstellen) und die dominanten Farben sollten sich im warmen Spektrum von Rot-Orange-Gelb bewegen als Hintergrund für die bedrohlich-schwarzen Raben.
Um mir eine Vorstellung vom Stil des fertigen Bildes zu ermöglichen, brachte meine Lektorin ein anderes Cover mit, das vom Illustrator, Herrn Dieter Wiesmüller, für ein anderes Buch gestaltet worden war, und das mir sehr gut gefiel. Das war eine Erleichterung für mich, denn gerade im Fantasy-Bereich gibt es auch unzählige Illustrationen, die nicht meinem Geschmack oder meinen Vorstellungen entsprechen. Vielleicht, weil gerade dieses Genre eben von der Fantasie nicht nur des Autors sondern auch des Lesers lebt und die in der eigenen Vorstellung entstandenen Bilder zu den Geschichten sehr individuell sind.
Mit dem fertigen Ergebnis war ich schließlich sehr zufrieden. Für mich war es ein spannender Moment, als ich erstmals ein Bild einer Szene in Händen hielt, die zuvor nur in meiner Fantasie existierte.

Sie sind Lehrerin, was sagen ihre Schülerinnen und Schüler dazu, dass Sie ein Buch geschrieben haben?

Das Schreiben bedeutete für mich stets Freizeit und Entspannung und bildete somit eher einen Gegenpol zu meiner beruflichen Tätigkeit als Lehrerin. Ich trenne dies auch bewusst, sodass das Buch für mich nur privat ein Thema ist.


Hatten ihre Schüler einen Einfluss auf das Buch?

Nein, denn als ich an der Geschichte arbeitete, studierte ich noch und hatte noch keine Schüler. Als ich mein Studium beendete und in den Schuldienst übernommen wurde, war das Manuskript bereits fast fertig und ich habe später nur noch einige Überarbeitungen und kleinere Änderungen vorgenommen.

Wie kam es zu diesem amerikanischen Helden und den Staaten als Austragungsort? War es nicht möglich, das Buch in Deutschland spielen zu lassen?

Mit der Arbeit an der Geschichte habe ich bereits Mitte der 90er Jahre begonnen. Ich studierte zu dieser Zeit an der Uni Dortmund und beschäftigte mich inhaltlich intensiv mit der Anthropogeograhie Nordamerikas. Während dieser Zeit wurde mein Interesse für diesen vielseitigen und spannenden Kontinent geweckt und ich widmete mich in meiner Staatsarbeit einem Aspekt aus diesem Bereich. Schon damals war mir klar, dass die Geschichte, an deren Entwurf ich parallel zu meinem wissenschaftlichen Text arbeitete, unbedingt in den USA spielen müsse. Diese persönliche Vorliebe ging einher mit einer erzähltechnischen Notwendigkeit, denn mein Roman ist zum Teil eine Reisegeschichte, die den naturräumlichen Hintergrund benötigt, den Nordamerika bietet. Die vielfältigen Landschaftsformen von dichten Wäldern, Gebirgen, Grasland, Wüsten, Millionenstädten oder menschenleeren Einöden, die sich über riesige Entfernungen über den gesamten Kontinent erstrecken, werden so zu einer lebendigen Kulisse für die Erzählung. Dies spricht besonders auch jüngere Leser an, die bei der Lektüre auf „Entdeckungsreise“ gehen wollen und etwas Neues und Fremdes kennen lernen möchten. So ist die Reise von Neuengland nach Las Vegas erzähltechnisch reizvoller als, nun, sagen wir mal die Fahrt von Bochum nach Wanne-Eickel.

Ich bin leicht geneigt, SAM UND DER SILBERSTAUB DES GLÜCKS als einen Klon von Harry Potter anzusehen. Alleine die Art und Weise, wie der Titel aufgebaut ist, erinnert daran. Welchen Einfluss hat Harry Potter auf Sie? Sam Hamilton soll die Welt retten. War es das Ziel? Mittlerweile möchte ja jeder Junge und jedes Mädchen im lesefähigen Alter hexen, zaubern, Held sein und das Böse besiegen. In wieweit ist SAM noch die ursprüngliche Idee und in wieweit, um es überspitzt auszudrücken, ein „Marketing-Entwurf“?

Der Begriff „Klon“ ist in der öffentlichen Diskussion sehr negativ besetzt. Klone sind genetisch völlig identische Nachkommen einer einzigen „Stammzelle“ und damit ein Kunstprodukt, das jeglicher Individualität entbehrt. In Verbindung mit Literatur erinnert mich dieser Begriff spontan an die mechanische Herstellung von Geschichten durch die „Romanschreibmaschinen“ in George Orwells „1984“. Ein erschreckender Gedanke.
Ich sehe Sam nicht als Klon von Harry. Aber die beiden würden sich vielleicht gut verstehen, weil es einige charakterliche Übereinstimmungen gibt. Sucht man jedoch Sam Hamiltons „Stammzelle“, so muss man noch etwas tiefer graben und stößt dann vielleicht auf die in den 40er Jahren von Joseph Campbell aufgestellte Theorie des „Monomythos“, der von seiner Struktur her eine ständige Variation eines grundlegenden Themas ist, einer Abenteuerfahrt des mythischen Heros, die in allen Kulturen und Zeitepochen anzutreffen ist. Wiederkehrende und vertraute Elemente ziehen sich wie ein roter Faden durch die einzelnen Geschichten. Dazu zählt der Held in seiner Alltagswelt, der zentrale Konflikt, die Berufung zu seiner Aufgabe, der Aufbruch, Übertretung der Schwelle, Unterstützung durch einen Helfer oder Mentor, der Weg der Prüfungen, Konfrontation mit dem Antagonisten in dessen „Höhle des Löwen“ sowie die Rückkehr in die Alltagswelt. Wenn man sich nicht gerade an experimenteller Literatur versuchen, sondern stärker am Mainstream orientieren möchte, sollte man diese Konventionen nicht völlig außer Acht lassen und einige dieser bewährten Archetypen mit ins Boot nehmen. Überspitzt mag man das dann einen „Marketing-Entwurf“ nennen, positiv formuliert geht es jedoch darum, die Erwartungen einer bestimmten Zielgruppe zu erfüllen. Darum sollte sich eigentlich jeder Autor bemühen, der seinen Text für eine Lesergruppe und nicht nur für sich selbst schreibt. J.K. Rowling ist eine hervorragende Variation des „Monomythos“ gelungen, und die Zahl ihrer Leser zeigt, dass dieses Konzept den Nerv unzähliger Kinder, Jugendlicher und Erwachsener getroffen hat.
Wie zahlreiche Geschichten dieser Art ist auch Sam Hamiltons „Stammzelle“ in diesem Monomythos verankert und variiert bestimmte Grundelemente. Sam Hamilton ist daher kein Klon von Harry Potter, denn ich bin nicht die zweite Joanne Rowling, sondern die erste Gunhild Eggenwirth.

Es gibt jetzt sehr viele Bücher, die mit „Name des Helden und besonderes Ereignis“ auf den Buchmarkt streben. Ist im Hintergrund nicht immer ein wenig die Angst, mit Harry Potter verglichen zu werden?

Diese Frage bringt mich ein wenig zum Schmunzeln, da ich mein Manuskript zuerst mit dem Titel „Der Silberstaub von Destino“ auf die Reise schickte. Diesen 4-Wort-Titel hielt ich für griffig und in der Länge angemessen. Mein Agent machte jedoch sehr schnell den Vorschlag den Protagonisten im Titel zu erwähnen. Ich hielt das Ganze dann für reichlich lang und setzte mich zunächst damit durch. Als das Manuskript dann vom Verlag angenommen wurde, machte meine Lektorin gleich bei der ersten Besprechung einen Vorschlag. Und dieser steht heute auf dem Cover.
Angst vor einem Vergleich mit Harry Potter habe ich nicht. J.K. Rowling hat mit ihrer Geschichte Großartiges geleistet. Ich habe ihre Bücher mit Begeisterung gelesen. Der Einfallsreichtum, die Stimmigkeit und Komplexität der von ihr geschaffenen Welt ist faszinierend und wird wahrscheinlich nur noch von Professor Tolkien übertroffen.
Wenn man heute eine Fantasygeschichte für Kinder und Jugendliche veröffentlicht, kommt man wohl kaum an J.K. Rowling vorbei, da sie Maßstäbe gesetzt hat. Dieses Schubladendenken und die Neigung zu Vergleichen stört mich jedoch nicht, da ich selbst gern lese und mich bei Empfehlungen für die neuen Bücher von noch unbekannten Autoren auch selbst von Vergleichen mit bekannten Schriftstellern und deren Werken leiten lasse. Wenn man sich als Leser auf den Neuling eines unbekannten Autors einlässt, möchte man eben gern wissen, woran man ist, bevor man sich auf eine 450-Seiten-Lektüre einlässt. Wenn Mrs. Rowling also mit Harry Potter eine Schublade aufgezogen hat, in die Sam nun hineingesteckt wird, stört mich das wenig. Im Gegenteil. Ich fühle mich in großartiger Gesellschaft.

Warum musste der Held ein Junge sein und kein Mädchen?

Eigentlich hatte ich als Protagonistin im ersten Entwurf zunächst eine gewisse „Samantha Hamilton“ vorgesehen, aber ich befürchtete die Frage, warum die zentrale Figur unbedingt ein Mädchen sein müsse und kein Junge...

Außer dem SILBERSTAUB DES GLÜCKS gibt es so gut wie keine Magie. Die Kinder müssen sich auf sich selbst und die Freunde verlassen. War das gezielt so angelegt?

Ja, dieser Aspekt war mir sehr wichtig, und Freundschaft bildet aus meiner Sicht einen wesentlichen Kern der Geschichte. Sam wäre ohne seine Freunde nicht weit gekommen. Freunde zu haben und für andere ein guter Freund zu sein, ist wichtiger als materielle Dinge. Ein anderer Aspekt der Geschichte sind Kraft und Stärke. Zwei Eigenschaften, die Sam auf den ersten Blick nicht zu haben scheint, denn im Gegensatz zu vielen anderen z. Zt. populären 'Super'-Helden verfügt er über keine außergewöhnlichen Kräfte. Durch den Marienkäfer Gershwin und seine beiden Freunde lernt er, dass es andere Eigenschaften gibt, auf die es ankommt. Eine Erfahrung, die besonders auch der unsichere und ängstliche Frederick macht. Gerade für Kinder, die sich auch oft schwach, klein und unterlegen fühlen ist es wichtig, dass sie ihre Stärken kennen lernen und auf sich selbst vertrauen.

Zurück zu Sam. Er ist der typische Verlierer, zumindest bis kurz vor Schluss der Erzählung. Eltern hat er keine mehr und wird von den Verwandten alle Jahre wieder an andere Verwandte abgeschoben. Warum muss er so leiden? Als Schriftsteller, könnte man ihm doch ein besseres Leben angedeihen lassen.

Eine heile Welt wünschen wir uns für uns selbst und die Realität, in der wir leben. Zieht sich diese heile Welt mit rosa Wattewölkchen jedoch vom Anfang bis zum Ende durch eine fiktive Geschichte, wird die Sache schrecklich langweilig. Eine spannende Erzählung lebt von einem Konflikt, dem Spannungsfeld zwischen Gut und Böse, Licht und Schatten - oder eben Glück und Unglück. Erst aus einer (intrinsischen oder extrinsischen) Notlage heraus kann ein Protagonist eine so starke Handlungsmotivation schöpfen, dass dies für die Leser glaubwürdig und nachvollziehbar ist und Empathie ermöglicht. Eine literarische Figur wird interessant, wenn sie sich im Verlauf der Handlung verändert, wenn sie an ihrer Aufgabe wächst, sich nicht unterkriegen lässt und sich im Verlauf der Handlung vom Underdog zum „Helden“ mausert. Wenn man ein festes Ziel vor Augen hat, muss man eben bereit sein, zunächst ein Stück durch die Dunkelheit zu stolpern.

Wie kam es zum Marienkäfer Gershwin als Begleiter, Glücksexperte und Helfer? Wie bei Pinocchio mit seiner Grille als gutes Gewissen begleitet der Marienkäfer SAM. Sind diese Parallelen beabsichtigt?

Ich mochte Marienkäfer schon als Kind sehr und von Anfang an war klar, dass ein solches Käferchen eine Hauptrolle in meiner Geschichte bekommt. Viele Menschen sehen Marienkäfer als Glückskäfer, und ich habe mich gefragt, wie das mit dem „Glück bringen“ nun genau funktionieren soll. Wo bekommen sie das Glück her? Wie transportieren sie es und woher wissen sie, wer etwas bekommen soll? Und wer übernimmt diesen undankbaren Job bei der Unglücksverteilung? Aus diesen Fragen hat sich nach und nach die Geschichte entwickelt. Natürlich konnte Sam (und auch mir) nur ein Experte diese Fragen beantworten, und da war Gershwin genau der Richtige. Er wird für Sam zu einem Freund und Mentor. Obwohl körperlich klein und schwach und damit seinen mächtigen Gegnern physisch noch stärker unterlegen als Sam, wird er für diesen zum wichtigen Helfer und treuen Freund. Eigentlich ist Gershwin noch ziemlich unerfahren, den seinem Namen entsprechend war eine andere Karriere für ihn vorgesehen. Er hat jedoch seine eigenen Vorstellungen und geht den Weg, zu dem er sich berufen fühlt. Gershwin ist gewitzt, clever, humorvoll und loyal. Unter dieser Oberfläche verbirgt sich noch eine Form von liebevoller Weisheit, wie man sie sich bei einem Lehrer und väterlichen Freund wünscht. Gershwin macht Sam Mut, wenn er in einer scheinbar ausweglosen Situation feststeckt. Dabei ist sein Rat nicht bevormundend, sondern er gibt Sam nur den Anstoß zum eigenen Denken und lässt ihm Freiraum für seine eigenen Entscheidungen. Wer wünscht sich nicht einen solchen Freund und Helfer auf der Schulter, der einem in schwierigen Situationen treu zur Seite steht und Rat und Aufmunterung ins Ohr flüstert?

Gibt es lebende Vorbilder für die Helden des Buches?

Nein, lebende Vorbilder für die Helden (und Antihelden) des Buches gibt es nicht. Was Sam betrifft, so hat er einige Anklänge bei einer meiner Lieblingsfiguren aus J.R.R. Tolkiens „Herr der Ringe“, der er nicht nur seinen Vornamen sondern auch einige Charaktereigenschaften verdankt. Er ist eigentlich alles andere als ein Held, sieht sich selbst auch zu keiner Zeit so. Durch seine Güte und Hilfsbereitschaft stolpert er eher unfreiwillig in sein Abenteuer hinein, setzt sich dann jedoch zielstrebig für die gute Sache ein und wächst schließlich über sich hinaus. Er ist klein, schwach und bescheiden. Angst und Selbstzweifel sind ihm gut vertraut. Dem stehen jedoch Eigenschaften gegenüber, die ihm letztlich bei der Bewältigung seiner Aufgabe helfen. Er ist selbstlos, loyal und lässt sich nicht unterkriegen; kurz: er hat das Herz am rechten Fleck. „Hamilton“ ist im englischsprachigen Raum ein sehr häufiger Städtename und auf beinahe jedem Kontinent zu finden. Damit spielt der Name ein wenig auf Sams Wurzellosigkeit an. Lisa und Frederick haben kein vergleichbares Vorbild wie Sam. Sie sollten möglichst gegensätzlich sein, was sich bei beiden bereits im Namen niederschlägt. Lisa ist kurz und unkompliziert, ihr Bruder lässt keinen Stolperstein aus. In ihrem Nachnamen steckt das englische Wort für 'schlau'. Ich denke, das trifft auf beide zu, wenn auch auf unterschiedliche und gegensätzliche Weise. Keine meiner Figuren ist autobiographisch oder hat Vorbilder in der Realität. Auch mit meinen Lehrern hatte ich meist mehr Glück als der arme Sam.

Eine beliebte Frage ist immer die, Wie viel steckt von Ihnen als Autorin im Helden der Erzählung? Das geht in diesem Fall nicht sehr gut. Wollten Sie als Kind ein Junge sein?

Nein, überhaupt nicht. Die Geschichte ist nicht autobiographisch. Man muss auch nicht unbedingt einmal ein Junge gewesen sein, um sich in einen hineindenken zu können. Ich war als Mädchen ganz zufrieden, vielleicht auch deshalb, weil ich als Kind keine negativen Begrenzungen diesbezüglich kannte. Ich hatte zwar Puppen und das klassische Mädchenspielzeug, aber ich durfte ebenso mit Autos, Bausätzen oder der Modelleisenbahn spielen. Ich bekam zahlreiche Bücher für Mädchen geschenkt, aber das hinderte mich nicht daran, mir aus der Bücherei die Abenteuergeschichten zu holen, die vielleicht eher von Jungen gelesen werden. Es hatte für mich also keine Nachteile, ein Mädchen zu sein. Wenn man all das darf, was Jungen dürfen, warum soll man dann noch einer sein wollen?

Schreiben Sie bereits an einem neuen Jugendbuch?

Nein, ich habe zwar einige Ideen, aber das ist alles noch sehr vage und nicht ausgereift. An dieser Stelle wäre es daher zu früh, genauere Angeben zu machen.

Wie und wann entdeckten Sie selbst die Liebe zum Buch?

Das war bereits so früh, dass ich mich nicht mehr an ein konkretes Ereignis erinnern kann. Ich glaube auch nicht, dass es bei mir ein bestimmtes Schlüsselerlebnis gewesen ist, sondern vielmehr ein langsamer und kontinuierlicher Prozess. Dabei spielen die Eltern sicher eine wesentliche Rolle, die durch ihr eigenes Leseverhalten einem Kind schon sehr früh den Wert von Büchern vermitteln können. Das beginnt mit den Geschichten, die einem als Kind erzählt oder vorgelesen werden oder die man später gemeinsam liest. Kein Kind wird den Wert von Büchern kennen lernen, dessen Eltern ihre Zeit nur vor dem Fernseher verbringen. Dies gelingt nur, wenn die Begeisterung der Eltern für das Lesen selbst echt und dauerhaft ist. Als ich selbst lesen konnte, wurden meine weiteren Erfahrungen mit Büchern von meinen Eltern unabhängiger, aber das positive Gefühl von Wärme und Geborgenheit ist geblieben. Ich habe gern abends bis spät in meiner Lieblingsecke verbracht und gelesen, während draußen der Regen gegen die Fenster prasselte und der Wind ums Haus heulte. Auf Reisen nehme ich stets mindestens ein Buch mit. Vor allem meine Lieblingsbücher, die ich bereits viele Male gelesen habe und bei denen mir nicht nur die Geschichte vertraut ist, sondern ich mich auch an die Umstände erinnere, unter denen ich das Buch zuletzt gelesen habe. Ich brauche Bücher, um mich zu entspannen und mich wohl zu fühlen.

Lassen Sie mich kurz abschweifen. Sie sprechen mit Ihrer Liebe zum Buch mir voll aus meinem Herzen. Können Sie sich einen Erfolg von e-Books vorstellen?

Auf diese Frage ein klares und entschiedenes ‚Jein’.
‚Ja’ für den Teil, der die allgemeine gesellschaftlich-technologische Entwicklung betrifft. Die Technik schreitet fort und bietet immer neue Möglichkeiten. Warum soll die Literatur nicht auch neue Wege gehen, wenn es darum geht, möglichst viele Menschen zu erreichen? Das hat man in früherer Zeit doch auch schon gemacht, denn auch der Buchdruck war irgendwann einmal eine revolutionäre Erfindung und ohne ihn würden wir heute noch unsere Geschichten mündlich weitergeben.
Ein Buch ist (nüchtern betrachtet) nur ein Medium, in dem etwas gespeichert wird. Das können ein Mikrochip oder eine CD doch genau so gut. Warum also nicht? Wenn dadurch Menschen erreicht werden, die mit Freuden auf einen Bildschirm starren oder aufgrund einer Papierallergie kein Buch in die Hand nehmen möchten, ist diese Technologie doch wunderbar.
Ich könnte mir das besonders gut bei Fachbüchern vorstellen, die ständig aktualisiert werden müssen und bei denen mit Hilfe von Suchbegriffen ein rascher Zugriff auf eine bestimmte Textstelle ermöglicht wird. Das erspart das lästige Blättern und die Druckerschwärze an den Fingern.
Sicher werden sich die neuen Medien weiter durchsetzen und sich die Marktanteile in den nächsten Jahren entsprechend verschieben. Wenn es also um eine moderne, zeitgemäße, praktische und seelenlose Speicherung und Verbreitung von Wörtern geht, sind e-Books wohl ideal. Bücher als schnelllebiges Konsumgut per Mausklick. Einschalten, anklicken, lesen, vergessen, neues Buch anklicken. Nun gut, wem’s gefällt...
Für mich persönlich beantworte ich die Frage mit ‚nein’, da Bücher für mich mehr als ein Speichermedium sind.
Die Bücher, die sich bei mir in vielen Jahren angesammelt haben, stecken für mich voller persönlicher Erinnerungen und haben mich zum Teil jahrelang begleitet. Ich weiß noch, wann ich sie geschenkt bekommen oder gekauft habe, an wen ich sie einmal ausgeliehen habe, wann und wo ich sie zum ersten Mal (einige davon dann immer wieder) las. So kaufte meine Mutter am Münchner Hauptbahnhof einmal Michael Endes ‚Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer’, um mir eine lange Zugfahrt zu verkürzen. Da ich selbst noch nicht lesen konnte, bekam ich die Geschichten vorgelesen und betrachtete die Illustrationen. Ich weiß noch, dass ich die Lok unseres Zuges ‚Emma’ taufte und die burgenreiche Rheinlandschaft, die wir durchfuhren, für Lummerland hielt. Ich glaube kaum, dass eine kahle Silberscheibe oder ähnliches bei mir eine ähnliche Begeisterung ausgelöst hätte, wie es dieses Buch damals tat, das ich heute noch im Bücherregal habe, neben zahlreichen anderen mit persönlichen Widmungen, selbst gebastelten Lesezeichen und unzähligen ‚Lesespuren’: Die Schwarz-Weiß-Illustrationen in meinen Kinderbüchern habe ich früher mit Buntstiften und viel Hingabe selbst nachcoloriert und die ‚Schatzinsel’ knirscht beim Durchblättern ein wenig, weil wohl noch immer etwas Sand vom Strand auf Borkum, wo ich sie gelesen hatte, zwischen den Seiten steckt. Stellen Sie sich das mal bei einem e-Book vor...
Neue Bücher betrachte ich erst eingehend. Ich sehe mir das Cover an, lese die Klappentexte, blättere durch die Seiten und genieße das Rascheln des neuen Papiers. Das geht bei einem e-Book nicht. Beim Blättern durch ein neu erworbenes Buch prüfe ich die Stärke der Seiten. Ist die Schrifttype angenehm zu lesen? Hält die Bindung auch, wenn ich das Buch mehrmals lese? Ist der Rücken stabil oder muss ich aufpassen, dass er nicht bricht?
Noch stärker begeistern mich ältere bereits gelesene Bücher. Gern stöbere ich deshalb durch Antiquariate und über Flohmärkte auf der Suche nach Kostbarkeiten. Wer das Buch wohl zuletzt gelesen hat? Manchmal sind die Seiten fleckig oder umgeknickt, weil jemand kein Lesezeichen hatte (so eine Unsitte!).
Heute sammle ich Bücher und habe mittlerweile vieles, das ich als Kind bereits in der Bücherei gelesen hatte. Auch finde ich manchmal ältere Ausgaben meiner Lieblingsbücher, von denen ich eigentlich bereits ein Exemplar habe. So entdeckte ich vor wenigen Wochen eine alte Ausgabe von Tolkiens ‚Kleinem Hobbit’. Ein ziemlich zerlesenes Buch mit zerfledertem Schutzumschlag (wurde wohl schon oft gelesen) und der Widmung einer gewissen Tante Erna (mitsamt herzlichen Weihnachtsgrüßen). Immerhin eine Ausgabe von 1971 und somit ein Jahr älter als ich selbst. Zu Hause glättete ich die Seiten, klebte den Schutzumschlag und blätterte ein wenig in dem Buch herum. Ehe ich mich versah, war ich bis zum Nebelgebirge gekommen, steckte in Gollums Höhle und löste mit Bilbo die ‚Rätsel in der Finsternis’.
Für mich enthalten Bücher nicht nur Geschichten, sondern haben oftmals selbst ihre eigene, ganz persönliche. Bei einem e-Book kann ich mir das alles nicht vorstellen.

Worauf haben Sie als Kind bei Büchern Wert gelegt?

Ich hatte zunächst keine Vorliebe für ein bestimmtes Genre. Vor allem wollte ich viele verschiedene Geschichten kennen lernen. Zu Beginn war ich offen für alles Mögliche, habe viele gute aber auch weniger gute Bücher gelesen. Begeistert haben mich vor allem Geschichten mit fantastischen und fantasievollen Elementen, in denen es dem Autor gelingt, seine Leser tief in die Erzählung hineinzuziehen und mitzureißen auf der Reise durch seine fiktive Welt. Kindheitslektüre fantastischer oder symbolischer Literatur kann, glaube ich, viel zur späteren Leseerfahrung und Offenheit beitragen. Der Zugang zu diesem Genre fällt vielen erwachsenen Lesern schwer, die als Kind niemals Märchen und fantastische Literatur lasen. Zwar lassen sich die Geschichten nicht eins zu eins auf die Wirklichkeit übertragen, doch regen sie die Fantasie an, vermitteln neue Ideen und bieten gute Trainingsmöglichkeiten für humane und soziale Verhaltensweisen. Wichtig war mir bei allen Büchern natürlich stets die Spannung. Auch der Humor durfte nicht zu kurz kommen. Später wurde mir die Sprache und Ausdruckskraft des Autors wichtig; Gibt es Figuren, die einem beim Lesen ans Herz wachsen, mit denen man mitfühlt und die Identifikationsmöglichkeiten bieten?
Zu meinen Lieblingsbüchern zählen bis heute die Geschichten, die mich als Leserin tief und dauerhaft berührt haben.

Vielen Dank für das ausführliche Interview und wir freuen uns natürlich auf weitere Bücher aus Ihrer Feder. Dazu viel Erfolg von unserer Seite.



Erik Schreibers Rezension zu Gunild Eggenwirths Roman "Sam und der Silberstaub des Glücks" ist hier zu finden.





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