Im Gespräch mit: Christoph Marzi
Datum: Tuesday, 21.November. @ 16:47:55 CET Thema: Interview
Christoph Marzi, 1970 in Mayen in der Eifel geboren, studierte Wirtschaftspädagogik in Mainz. Neben seiner Tätigkeit als Lehrer an einem wirtschaftswissenschaftlichen Gymnasium in Saarbrücken schreibt er seit vielen Jahren phantastische Erzählungen. Der Autor lebt mit seiner Familie im Saarland.
Unser Mitarbeiter Carsten Kuhr sprach mit dem Autor. Mehr...
Hallo Christoph, Deine "Emily Laing"-Trilogie liegt mittlerweile bei
Heyne vollständig vor - was ist das für ein Gefühl, überwiegt das Glück, ist
es Erleichterung, dass Du alles zu einem runden Abschluss gebracht hast,
oder die Neugier, wohin Dich Dein Weg als Autor jetzt führen wird?
Die Erleichterung, sofern man sie so nennen will, hatte bereits Mitte
Juli angeklopft. Normalerweise ist es so, dass sich neue Ideen herausbilden,
wenn ich mitten in der Arbeit an einer Geschichte stecke. "Lumen" zu beenden
war ein schönes Gefühl gewesen, weil Emily endlich den Platz im Leben
gefunden hatte, den ich ihr gewünscht habe. Und da ich genau gewusst habe,
wohin der Weg mich führen wird, war dies kein reumütiges Ende gewesen. Die
Arbeit an "Liquido" begann gleich einen Tag, nachdem "Lumen" in den Satz
gegangen war.
Der dritte Band - "Lumen" - führt Dich und Deine Leser nach Prag. Hast
Du die alte Kaiserstadt selbst besucht - Deine Beschreibungen des
Judenviertels lesen sich sehr detailliert und ortskundig?
Ich bin einmal dort gewesen, habe einige Bücher über die Stadt gelesen
(Kafka und Meyrink, vor allem) - und immer brav "Pan Tau" angeschaut, als
ich klein war. Mein Bruder hat lange Zeit in Prag gelebt und für ihn ist es
wohl die wunderbarste Stadt der Welt. Für die Beschreibungen habe ich dann
aber Reiseführer und (wie schon erwähnt) Romane gelesen, weil ich nicht die
gegenwärtige Atmosphäre in Prag schildern wollte, sondern eine Stadt, die
eine Mischung aus dem Prag Kafkas und dem mystischen Prag des Mittelalters
sein sollte. Das alles in schwarzweiß.
Im abschließenden Band sind Deine Personen - und nicht nur die
Protagonistin Emily, sondern auch andere - gereift. Altergemäß müssen unsere
beiden ehemaligen Waisenmädchen jetzt mit Gefühlsstürmen fertig werden, die
Liebe - himmelhoch jauchzend vor Glück, dann wieder zu Tode betrübt aus
Liebeskummer - hinterlässt ihre Spuren. Dennoch oder vielleicht auch gerade
deshalb nehmen wir diesmal noch mehr Anteil an ihren Schicksalen - wie
siehst Du das?
Ich finde, dass eine Geschichte durch die Glaubwürdigkeit der Charaktere
lebt. Wenn man nicht mit den Charakteren leiden und bangen kann, dann
bleiben nur mehr die Effekte. Emily ist achtzehn Jahre alt und die
Beziehung, die sie führt, ist die Beziehung einer Achtzehnjährigen. Sie
stellt sich die typischen einer Heranwachsenden: "Wo wird mein Platz im
Leben sein? Wem kann ich vertrauen? Wer nimmt mich so, wie ich bin? Wer sind
meine Eltern, wie waren sie, als sie in meinem Alter waren, wie sind sie
jetzt, und was hat das alles mit mir zu tun?" Sie sucht Antworten und auf
dem Weg dorthin macht sie Fehler. Sie ist nicht perfekt. Aurora ist es auch
nicht. Wittgenstein? Weit entfernt davon. Sie alle sind Menschen und
verhalten sich wie Menschen. Wenn mir gelungen ist, das zu zeigen, dann
freut es mich.
Luzifer, der gefallene Engel bekommt, ohne dass wir hier zu viel
verraten wollen - eine ganz andere Bestimmung als gewöhnlich. War er für
Dich ein interessanter Charakter - vielleicht gar neben dem geheimnisvollen
Wittgenstein der interessanteste weil entwicklungsfähigste Charakter?
Luzifer stellt die einzige Frage, die wichtig ist: "Warum?" Und er will
frei sein. Er liebt. Und er lebte in einem System, das einer Diktatur sehr
nahe kommt. Luzifer ist ein Freidenker und am Ende entscheidet er sich für
die Liebe. Das ist es, was zählt. Luzifer hat es erkannt. Lilith auch. Und
da sind wir beim zentralen Motiv von "Lumen": im Grunde genommen geht es
doch darum, einer Familie anzugehören. Die meisten der Protagonisten streben
dieses Ziel an. Und diejenigen, die Böses tun, sind meist an diesem Ziel
gescheitert. Die Frage danach, was absolutes Glück bedeuten mag, liegt da
wohl auf der Hand.
Stichwort Wittgenstein - er tritt nach der Offenbarung seines Werdegangs
im Verlauf der Handlung ein wenig in die zweite Reihe zurück. Wäre sein
Leben nicht eine Geschichte die es wert wäre eigenständig erzählt zu werden?
Mortimer Wittgenstein hat ein bewegtes Leben hinter sich. Es gibt da
bestimmt noch einiges zu erzählen, und vermutlich werde ich eines Tages auch
noch einiges darüber schreiben. Um ehrlich zu sein, es ist etwas geplant.
Trotzdem - erst einmal aber lasse ich ihn in Marylebone zurück. Und warte
ab, was passiert.
Du fügst in Deinen Roman eine Vielzahl von Mythen zusammen.
Alttestamentarische Überlieferungen, Ägyptisches Pantheon, die Golemsage -
wie hast Du hier die Übersicht behalten, hat sich dies von vorne herein so
gefügt, oder bist Du mit dem Plan an den Handlungsentwurf gegangen, diese
eigentlich so unterschiedlichen Mythen in sich logisch zusammenzuführen?
Mythen haben mich schon als Kind interessiert (da nennen sie sich zwar
Märchen, sind aber im Grunde genommen richtige Mythen, die bloß ein wenig
tiefstapeln). Wenn man sich mit Mythen beschäftigt, dann fallen einem
irgendwann bestimmte Grundtypen von Geschichten auf, die es in vielen
Kulturen gibt. Man sieht Geschichten, die unterschiedliche Länder, Zeiten
und Kulturen verbinden. Was natürlich die Frage aufwirft, wo all diese
Übereinstimmungen herkommen. Erklärungen dafür gibt es natürlich zuhauf, die
Wissenschaft ist redlich bemüht, sie zu finden. Diese Zusammenhänge
aufzugreifen und in einem fantastischen Zusammenhang zu präsentieren, hat
für mich schon immer den Reiz des Geschichtenerzählens ausgemacht. Dass John
Milton gute Einblicke ins Leben Luzifers gehabt hat, steht außer Frage. Dass
G.K. Chesterton in Notting Hill lebt, liegt ebenso auf der Hand. Dass Mr.
Fox und Mr. Wolf in vielen Geschichten leben (in Carlo Collodis "Pinocchio",
Neil Gaimans "Neverwhere", und sogar in Filmen wie "James Bond -
Diamantenfieber" und irgendwie auch ein wenig in Dänemark, am Hof eines
gewissen Hamlet) ... nun ja, einige Leser haben mich darauf angesprochen.
Und: ja, das war alles Absicht. Wenn man beginnt, mit Mythen zu spielen,
dann muss man ihnen auf den Grund gehen. Hat Chesterton den Napoleon von
Notting Hill gekannt? Hat Shakespeare sich von dem uralten Konflikt zwischen
den Häusern Manderley und Mushroom inspirieren lassen, oder war eines der
Häuser die Schöpfung einer Autorin, die auch Alfred Hitchcock gemocht hat?
Wenn der Leser anfängt, darüber nachzudenken und nach Zusammenhängen zu
suchen, dann wird er erkennen, dass aus alten Mythen neue Mythen entstehen
können, die allesamt Elemente enthalten, die es schon immer gegeben hat. Und
das passt zur uralten Metropole.
Zum Finale gibt es eine doch recht unerwartete Wendung. War das von
Beginn an so geplant, dass Emily ihre Entscheidung revidiert?
Es war geplant, wurde wieder umgeworfen, war wieder im Gespräch. Es von
Beginn an zu planen, wäre "Plotting". Den Charakteren genügend Luft zum
Leben und Sich-Entwickeln zu lassen, ist "Storytelling". Letzteres macht für
mich den Reiz beim Schreiben aus. Man lebt mit der Geschichte. Man erzählt
eine Geschichte, man "lebt" sie - aber man plant sie nicht. Zumindest ist
das nicht mein Art zu erzählen.
Die Titelbildgestaltung der drei Heyne Paperbacks durch Dirk Schultz war
ja überaus stimmig und gelungen. Wie lief hier die Zusammenarbeit zwischen
dem Autor und dem Grafiker was Motiv und Ausgestaltung anbelangt ab?
Dirk Schulz und Andreas Hancock haben vorab ein Exposé des Romans
erhalten, damit sie in etwa wissen, wohin die Reise geht. Da die Cover
bereits fertig sein müssen, wenn die Verlagsvorschauen gedruckt werden,
müssen die Zeichenstiftzauberer mit den wenigen Informationen klarkommen,
die ich ihnen zukommen lasse. Konkret hieß das bei "Lumen", dass ich die
Karlsbrücke vorgeschlagen habe. Der rote Hintergrund und gewisse Szenen im
Buch haben sich dann mehr als gut ergänzt. Ursprünglich hatte ich auch für
"Lilith" eine andere Hintergrundfarbe vorgeschlagen. Mir schwebte da etwas
Sandfarbenes vor. Dann blieb man aber bei den eher blauen Farbtönen. Zur
Karte ... da hat Andreas Hancock Wunderbares geleistet. Schon recht früh
bekam ich die Kartenentwürfe zugeschickt. Auch Andreas Hancock musste mit
meinen Informationen zurechtkommen. Konkret hieß das, dass er genaue
Vorgaben bezüglich der Orte und Namen bekam, die wichtig waren. Die
Verwendung der Geige als Kapitelmotiv war Martina Vogls Idee gewesen und
passte dann sehr gut zu dem, was sich am Ende des Buches ereignet (und hier
nicht verraten werden soll).
Von Heyne habe ich erfahren, dass man dort unbedingt weitere Werke aus
Deiner Feder veröffentlichen möchte. Wie sieht hier die Planung aus - an was
arbeitest Du zur Zeit?
Es ist eine neue Trilogie geplant, die bei Heyne erscheinen soll. Das
erste Buch wird im Juli fertig sein, so dass der Titel zur Buchmesse in
Frankfurt präsentiert werden kann. Den Arbeitstitel werde ich demnächst in
meinem Journal bekannt geben, vermutlich als "Weihnachtsgeschenk". Darüber
hinaus ist Heyne an einem Kurzgeschichtenband interessiert. Eine schöne
Sache, zumal die Geschichten bereits vorliegen (und immer wieder neue
entstehen). Eine Rückkehr in die uralte Metropole ist ebenfalls geplant,
allerdings anders, als man vielleicht denkt. Auf gar keinen Fall möchte ich
die Geschichte um Emily Laing endlos fortschreiben.
Mitte Oktober habe ich die Arbeit an "Liquido" beendet. "Liquido" ist der
erste Band einer Jugendbuchtrilogie, der Mitte Januar 2007 bei Arena
erscheinen wird. Die Folgebände sollten beide noch in 2007 erscheinen. Die
Arbeit am zweiten Buch (mit dem Arbeitstitel "Meduza") habe ich gerade
aufgenommen.
Zwischendrin ist dann immer wieder Zeit für Kurzgeschichten. Es wird also
nicht langweilig, sozusagen.
Du hast in letzter Zeit im Saarland eine kleine Lesereise veranstaltet.
Wie waren hier die Reaktionen der Leser, was war die ungewöhnlichste Frage,
die Dir gestellt wurde? Liegt Dir das, Deine Geschichte einem Publikum live
zu präsentieren?
Die tägliche Lesetour findet bei mir Zuhause statt. Die Mädels sind sehr
interessiert an Geschichten jeder Art. Kinder brauchen Geschichten. Früher
hat meine Mutter mir fast jeden Tag vorgelesen. Vorlesen ist eine feine
Sache. Ich selbst mag es, wenn ich Kurzgeschichten lesen kann, weil dies dem
Vorlesen, so wie ich es kennen gelernt habe, am nächsten kommt. Bei den
Lesungen aus den Romane kann man immer nur Einblicke geben. Bei
Kurzgeschichten kann man die Reaktionen der Leser besser erkennen, weil eine
Geschichte auch wirklich zu Ende erzählt wurde. Bei Romanlesungen arbeitet
man zwangsläufig immer mit Cliffhängern: eine Szene wird angelesen, wie es
weitergeht, steht im Buch ... Kurzgeschichten zu lesen kommt dem Märchen
erzählen sehr nahe.
Eine häufige Frage bei Lesungen ist: "Wie fällt Ihnen das alles ein?"
Gefolgt von: "Wann schreiben Sie?" Bis hin zu: "Wie schreiben Sie?" Darauf
zu antworten fällt immer ein wenig schwer, weil mir die Dinge einfallen, wie
sie mir nun einmal einfallen. Eine mögliche Antwort wäre: ich habe eine
lebhafte Phantasie. Eine andere: ich bin ein wenig verdreht. Ich schreibe
regelmäßig und ich denke, dass das die Kunst ist. Stephen King hat es auf
den Punkt gebracht: wenn ich jeden Tag drei Seiten schreibe, dann habe ich
am Ende des Jahres einen dicken, fetten Roman vor mir liegen. Und wie ich
schreibe? Meist von links nach rechts, dann von oben nach unten. Man setzt
Wörter zusammen und kürzt viel weg. Man formuliert um. Man sitzt am
Schreibtisch und denkt sich Sachen aus. Das ist alles. Ich habe mir immer
gewünscht, das tun zu können. Es macht Spaß, noch genauso viel Spaß wie
damals, als ich mit dem Schreiben begonnen habe. Vielleicht sogar heute noch
mehr.
Gegenwärtig stehen zwei Kurzgeschichten von Dir zur Veröffentlichung in
Anthologien an. Liegt dir die kurze Form, oder fühlst Du Dich in einem
umfangreichen Romanen eher zu Hause?
Kurzgeschichten sind wunderbare kleine Dinger, die irgendwann anklopfen
und geschrieben werden wollen. Außerdem sind sie das beste Medikament gegen
einen Zustand, den man als Schreibblockade bezeichnen mag. Wenn ich während
der Arbeit an einem Roman in einer Szene feststecke, dann hilft es immer,
sich mit einer anderen Geschichte zu beschäftigen. Und oft ist es auch so,
dass die Idee zu einer Kurzgeschichte gerade dann kommt, wenn man sie
überhaupt nicht brauchen kann (in der Regel tauchen diese Ideen kurz vor
Deadlines auf - und, ähnlich den Deadlines, sind sie Rudeltiere). Am Ende
wollen manche Geschichten geschrieben werden, und andere nicht. Die beiden
erwähnten Kurzgeschichten entstanden auf Anfrage. Alisha Bionda fragte an,
ob ich nicht Lust hätte, eine Geschichte im Sinne von Poe zu schreiben ("Der
dünne Mann" bei BLITZ). So entstand "Die Raben" (für die ich mir vier
Stunden lang Catharinas Zimmer borgte, einfach, um an einem anderen Computer
zu arbeiten). Susanne Evans und Wolfgang Hohlbein stellten Anfang des Jahres
eine Weihnachtsgeschichten-Anthologie auf die Beine ("Wolfgang Hohlbeins
Fantastische Weihnachten" bei Ueberreuter). Da ich Weihnachten mag, Danny
Elfman sowieso und Schnee obendrein, schrieb ich "Der Krähenengel". Es gibt
noch einige andere Kurzgeschichten, die im Laufe des nächsten Jahres in
diversen Anthologien erscheinen werden. Wenn jemand fragt, sage ich nur
ungern nein. Ich mag Kurzgeschichten und finde, dass Kurzgeschichten viel zu
kurz kommen in Deutschland (kleines Wortspiel). Glaubt man den Verlagen,
dann sind Kurzgeschichtensammlungen oft reines Gift für den Verkauf. Doch
nirgends findet man so viele Gedanken vereint wie in Anthologien ("October
Dreams", "999", Michael Chabons "McSweeney`s"-Reihe).
Du hast inzwischen eine eigene Webseite. Motiviert, inspiriert Dich der
dadurch, mögliche direktere Kontakt mit Deinen Lesern?
Ich gebe mir Mühe, die eingehenden Mails gewissenhaft zu beantworten,
was manchmal ein wenig dauern kann, aber ... ich gebe mir Mühe.
Vielen Dank, dass Du Dir für uns Zeit genommen hast. Wir wünschen Dir
weiterhin alles Gute!
Die Homepage von Christoph Marzi ist hier zu finden.
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