Im Gespräch mit: Christoph Marzi
Datum: Saturday, 15.April. @ 11:00:28 CEST
Thema: Interview


Christoph Marzi wurde 1970 in Mayen geboren. Aufgewachsen in Mendig in der Eifel, lebt und lehrt er heute als Lehrer am Wirtschaftswissenschaftlichen Gymnasium in Saarbrücken. Der dreifache Vater legte passend zum Weihnachtsgeschäft 2005 bei Heyne mit „Lilith“ die Fortsetzung seines erstes großes Werkes „Lycidas“ auf. Unser Mitarbeiter Carsten Kuhr sprach mit dem Autor.

Zunächst einmal Glückwunsch zum weiteren Nachwuchs. Bleibt da eigentlich noch genügend Zeit zum Schreiben?

Vielen Dank. Stella Maria ist nun das dritte Mädchen in der Familie und irgendwie erntet man als Vater von drei Mädchen überall amüsierte Blicke. Seltsam, nicht wahr?! Aber zum Schreiben bleibt, denke und hoffe ich, noch ausreichend Zeit. Immerhin gibt es eine Reihe von Autoren mit mehr als zwei Kindern und die schaffen es ja auch noch, hin und wieder ein Buch zu schreiben. Außerdem ist es etwas ganz Großartiges, Kinder zu haben. Die Welt durch Kinderaugen neu zu entdecken ist ein wirklich unvergleichliches Erlebnis. Man sollte die Energie, die einem die Familie geben kann, niemals unterschätzen. Insofern bin ich allerbester Dinge, dass noch genügend Kraft und Zeit zum Schreiben bleibt.

Mit „Lycidas“ hatten Sie einen abgeschlossenen Roman vorgelegt. Was war der Grund für die jetzt erschienene Fortsetzung – war einfach noch eine weitere Geschichte um Emily zu erzählen, oder trat der Verlag mit dem Wunsch einer Fortsetzung an Sie heran?

Bereits während der Arbeit an „Lycidas“ war mir klar gewesen, dass die Geschichte nicht nach diesem Buch zu Ende sein würde. Dafür gab es zu viele offene Enden und unbeantwortete Fragen. Emily und Aurora haben wir in „Lycidas“ an einem Punkt verlassen, an dem sie etwa 12 Jahre alt waren. Und die Frage, welche Entwicklung die beiden wohl durchmachen würden, hat mich eigentlich von Beginn der Geschichte an beschäftigt. Natürlich musste ich abwarten, ob Heyne an der Fortsetzung interessiert ist. Mit anderen Worten: ich war bereits mitten in der Arbeit an „Lilith“ und wartete noch bangen Herzens das letztendliche Okay vom Verlag. Die Fortsetzung war für mich allerdings eine notwendige Weiterentwicklung der Geschichte, die in „Lycidas“ begonnen worden ist. Emily ist in „Lilith“ vier Jahre älter und ihre Zukunft ist nicht unbedingt das geworden, was sie sich erhofft hatte. Wir haben es also mit der spannenden Frage zu tun: „Was passiert nach dem ersten Happy End?“ Die Mädchen verhalten sich nun anders, weil sie älter sind und ihnen auch andere Dinge im Kopf herumschwirren. Emily ist alles andere als eine Musterschülerin und Aurora leidet noch immer darunter, dass sie ihre Wurzeln nicht kennt. Außerdem vermisst sie Neil Trent. Und London ist nach wie vor ein gefährlicher Ort, an dem Menschen verschwinden und sich zeigt, wie gierig die Welt sein kann.

Bei unserem letzten Gespräch haben Sie anklingen lassen, dass es eventuell drei Romane um Emily geben könnte. Wie weit sind die Vorarbeiten an dem dritten, abschließenden (?) Roman gediehen – um was wird es darin gehen?

Der abschließende Band trägt den Arbeitstitel „Wittgenstein“ und ich stecke mitten drin in der Arbeit. Heißt: Recherche, was die Schauplätze angeht; Ausarbeiten der Handlung. Einige Szenen sind bereits geschrieben. Das Buch wird direkt an „Lilith“ anschließen, dann wird es einen kleinen Sprung in die Vergangenheit wagen und … mehr wird hier nicht verraten. Man wird aber mehr über Wittgenstein und Magister McDiarmid und Master Micklewhite erfahren und der Konflikt zwischen den großen Häusern in London wird jetzt ein ganz zentraler Punkt sein. Lord Mushroom wird ein zentraler Charakter des neuen Buches sein. Das Ende von „Wittgenstein“ ist ein rundes Ende. Ich plane danach erst mal keinen weiteren Roman, der in der uralten Metropole spielt. Aber man kann nie wissen. Emily wird älter – und vielleicht wird es irgendwann einmal interessant, dorthin zurückzukehren und nachzuschauen, was aus den alten Bekannten geworden ist. Ehrlich gesagt, kann ich mir das sehr gut vorstellen. Doch nach dem dritten Buch werde ich mich vorerst von Emily und Aurora und all den anderen verabschieden.

Nach der Stadt der Schornsteine (London) und der Stadt der Liebe (Paris) müsste im nächsten Band vielleicht eine andere alte Metropole wie etwa Rom, Prag oder Berlin als Handlungsort dienen?

Die zentrale Handlung wird in London spielen, aber es wird andere Schauplätze geben. Genau genommen zwei andere Schauplätze. Aber anders, als man vielleicht erwartet. Und mehr wird darüber nicht verraten.

Ein paar Zitate aus dem Roman: „Die Zukunft war nicht das geworden, was wir uns erhofft haben. Doch wird sie das jemals“ (Seite 20). Ist es nicht gut, dass die Zukunft immer Überraschungen für uns bereithält?

Emily und Aurora hatten am Ende von „Lycidas“ geglaubt, ihren Platz in der Welt gefunden zu haben. Doch in „Lilith“ erfahren wir sehr schnell, dass keines der Mädchen ein Leben führt, das man als idyllisch bezeichnen möchte. Emily fühlt sich noch immer ausgegrenzt und Aurora ist einsamer denn je. Gemeint ist also die Zukunft, die sich Emily und Aurora in „Lycidas“ erhofft hatten. Dass die Zukunft Überraschungen bereit hält, ist natürlich gut. Wenn diese Überraschungen aber nicht unbedingt sehr angenehm sind, dann ist das … nun ja, nicht so gut. „The Times they are A-changin`”. Besser als Bob Dylan kann man dies nicht in Worte und Musik fassen.

“Die Probleme anderer werden ausschließlich dazu genutzt selbstmitleidig eigene Unpässlichkeiten darzubieten und so nach wohlwollenden Zuspruch und Verständnis zu heischen und dem eigenen Schicksal eine Bedeutung zuzumessen, die man nur mehr als lächerlich bezeichnen kann“ (Seite 28). Sind wir heutigen Menschen zu Ichbezogen, zu wehleidig?

Manche Menschen – bestimmt. Gerade in der Vorweihnachtszeit hat man doch den Eindruck, dass die Jagd nach materiellen Gütern zum Lebensmittelpunkt für viele Menschen geworden ist. Der Wohlstand in unserer Gesellschaft ist auf recht hohem Niveau und doch wirken viele Menschen unzufrieden – und das, obwohl es ihnen an nichts Lebensnotwendigem mangelt. Ich denke, dass Wohlstand zu sehr mit materiellem Wohlstand gleichgesetzt wird. Kinder wollen Eltern, die bei ihnen sind, und nicht Eltern, die ihnen Dinge kaufen. Menschen möchten sich in der Gesellschaft anderer Menschen wohlfühlen. Wenn das Leben zur Selbstdarstellung wird, dann läuft etwas schief. Ja, ich denke, dass viele Menschen mit sich selbst unzufrieden sind. Man flüchtet sich in Aktionismus, schüttet sich selbst mit Terminen zu. Hey, ich kenne Leute, die sich damit brüsten, im nächsten halben Jahr kein freies Wochenende mehr zu haben. Wow?! Ist das ein erstrebenswertes Ziel? Die Menschen beklagen, dass es anderen besser geht, dass andere mehr besitzen, dass andere zuviel staatliche Transfers beziehen, dass andere weniger arbeiten müssen, dass andere weniger kränklich sind. Es sind immer die anderen, denen es „besser“ geht. Schalten Sie den Fernseher an. Wir haben eine Kultur des Jammerns und wehleidigen Selbstbeklagens entwickelt, die nur noch als lächerlich zu bezeichnen ist. Was natürlich nicht heißen soll, dass es keine zufriedenen Menschen mehr gibt. Nur sind diejenigen, denen die Unzufriedenheit die Gesichtszüge entgleisen lässt, auch diejenigen, die aus der Masse hervorstechen. Buchen Sie einen Urlaub in einem Familien-Club-Hotel. Sie werden selten mehr unzufriedene Menschen an einem Ort zusammengerottet sehen als in einem Hotel, in dem Speis und Trank im Übermaß vorhanden sind.

Über Aurora schreiben Sie auf Seite 29, dass diese die Kunst des Schweigens beherrscht. „Man weiß doch erst, dass man zu Hause ist, wenn da jemand ist, mit dem man gemeinsam schweigen kann“ (Seite 75).
Ist dies eine Kunst, die gerade in unserer heutigen schnelllebigen und durch ständige Berieselung geprägte Zeit zunehmend verschwindet?
Sind Sie ein Schweiger?


Ja, es ist eine Kunst. Die vor allem darin besteht zuhören zu können. Schweigen setzt natürlich voraus, dass man denjenigen, mit dem man zusammen schweigt, so gut kennt, dass Worte in gewissen Situationen unnötig sind, um sich zu verständigen. Meine Frau beispielsweise kennt meine Gedanken oft, bevor ich sie selbst erkenne. Erschreckend, aber sie kennt mich nun einmal so gut wie kein anderer. Wenn wir schweigen, dann kann das auch schon wieder wie ein Dialog sein. Aber ob ich ein Schweiger bin? Ich denke eher, dass ich unentwegt plappere. Also: nicht unbedingt der große Schweiger. Nein, ich bin sehr mitteilsam.

Im Roman besuchen Sie neben Paris auch Pest (heute Budapest) und Ägypten in den 20er Jahren. Wo und wie haben Sie hier recherchiert?

Für die Ägypten-Passagen habe ich diverse Bildbände und Reiseführer bemüht, dazu natürlich die Standardliteratur (ein wenig Vandenberg, ein wenig Ceram), vertiefend aber die Werke von Howard Carter („Tomb of Tutanckamen“ und „Tutanckamen: The Politics of Discovery“). Für die Namen der ägyptischen Könige habe ich dann auch gleich die Schreibweise gewählt, die Howard Carter benutzt hat. Paris hat sich mir auf ähnliche Weise erschlossen, wenngleich das Paris, das ich schildere, nur zum Teil das real existierende Paris ist. Es gibt ein Buch über den Untergrund von Paris mit tollen Schilderungen und Photographien der Katakomben und Abwässerkanäle (das so lange in meinem Besitz gewesen war, dass die Stadtbibliothek wohl schon überlegt hat, Killer auf mich anzusetzen). Paris und Budapest kenne ich, wie auch London, von diversen Reisen. Der Rest ist Recherchearbeit. Reiseführer, Bildbände, Geschichtsbücher. Tania Blixen hat einmal gesagt, dass ein Phantasiereisender sehr wenig Gepäck benötigt. Dem kann ich nur zustimmen.

Im Roman eingeschoben ist eine Novelle, fast schon ein Kurzroman, der – ohne zu viel verraten zu wollen – die Ausgrabung des Pharaonengrabes von Tut-ench-Amun und den Besuch Siebenbürgens zum Thema hat. Haben Sie an eine gesonderte Veröffentlichung dieses Teiles einmal gedacht?

Nein, Eliza Hollands Geschichte gehört zu „Lilith“ und war nicht als eigenständige Story geplant gewesen.

Ich hatte den Eindruck, dass Sie von der alten Nilhochkultur sehr angetan sind. Sind hier weitere Romane mit entsprechenden Handlungsorten angedacht?

Es gibt ein Jugendbuchprojekt, in dem es einige Abstecher nach Ägypten geben könnte. Darüber hinaus ist nichts in der Richtung geplant. Jerusalem und das Zweistromland üben derzeit einen größeren Reiz auf mich aus. Aber mal schauen, was die Zukunft bringt.

Einige lieb gewonnene Figuren müssen in diesem Band abtreten. Andere entwickeln sich von Gegnern zu Verbündeten. In unserem letzten Gespräch sagten Sie mir „Es geht um Freundschaft, die Einsamkeit besiegt. Um Tapferkeit, die aus Angst geboren wird. Um Mut, sich den eigenen Dämonen zu stellen.“ Nun lassen aber die Verluste Emily und die anderen gerade einsamer zurück – ein Widerspruch?

Ja und nein. Emily hat ihren Platz in der Welt gefunden. Ein Platz, der kein Ort sondern eine Person ist. „Home is where the heart is“. Aurora ist es weniger gut ergangen. Aber die Trauer, die Aurora spürt, ist wichtig für ihre weitere Entwicklung. Das Verhältnis zwischen den beiden Freundinnen hat sich verändert und davon, wie beide mit der neuen Situation klarkommen, wird das letzte Buch handeln. Aurora sieht das Glück ihrer Freundin und … aber ich will nicht zuviel verraten. Die Einsamkeit, die Aurora, Eliza und auch Pilatus Pickwick fühlen, muss nicht siegreich bleiben. Und persönliche Dämonen, denen sich die Protagonisten stellen müssen, gibt es noch einige. Ich denke da an Emily und Mara und ihrer beider Verhältnis zu der etwas verwirrten Mutter. An Aurora und Little Neil Trent. An Lord Mushroom, in dessen Vergangenheit wir im letzten Buch von ganz anderer Seite sehen werden. Freundschaft, denke ich, sollte noch immer die treibende Kraft in der Geschichte sein. Denn schlechte Zeiten lassen sich letzten Endes doch nur mit der Familie oder den Freunden überstehen – und im besten Fall sind Freunde und Familie eins.

Was macht „Charing Cross“, Ihre Vampir-Trilogie?

Der Roman bestand aus einer Rahmenhandlung und einer Erzählung, die das fiktive Leben einer hohen Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts zum Inhalt hatte. Kurzum: die Rahmenhandlung gefällt mir nicht mehr, der Mittelteil, sozusagen der Kern der Geschichte, allerdings immer noch sehr. Vor einem halben Jahr habe ich diesen Kern überarbeitet (sehr stark, will ich meinen) und nun existiert er als eine eigenständige Geschichte, die den Titel „Vardoulacha“ trägt. Eine weitere Arbeit mit dieser Thematik ist aber nicht geplant.

Haben Sie für das Gespräch herzlichen Dank!

Die Homepage von Christoph Marzi ist hier zu finden.

Carsten Kuhrs Rezension zu "Lilith" von Christoph Marzi ist hier zu finden.





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